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GÖKSU BAYSAL

Dört yüz altı adım

 

Apr 16 – 30, 2021

2019 reist Göksu Baysal in eine Landschaft aus seiner Kindheit, das Pontunsgebirge in Nordanatolien. Er lernt dort einen jungen Geflüchteten aus Afghanistan kennen. Die beiden beschließen, den höchsten Gipfel der Region, den Karagöl, zu besteigen. Der junge Mann will die Welt, in der er Arbeit und ein neues Zuhause gefunden hat, das erste Mal von oben sehen. Auf ihrer Wanderung entdecken sie einen zwei Meter hohen Stein, der auffällig frei in der Landschaft steht. Mit seiner Mittelformatkamera portraitiert Baysal den Stein von allen vier Seiten. Es ist der Auftakt zu einer Reihe von Arbeiten, die sich mit der ungewöhnlichen Ausdruckskraft des Stein auseinandersetzen und dabei eine Geschichte über Sehnsucht und Distanz erzählen, eine Geschichte, die von sehr weit herkommt und von der unklar ist, wo sie enden wird.

Die beiden großformatigen Schwarzweißfotografien Dört yüz altı adım, yüz I & II zeigen die West- und Nordseite des Steins. Mit den beiden hier nicht gezeigten Fotografien der Ost- und Südseite ergeben sie eine Serie, deren Titel zugleich titelgebend für diese Ausstellung war: Dört yüz altı adım („Vier Seiten sechs Schritte“) ist ein einfacher Hinweis darauf, was wir auf den Fotografien sehen (die vier Seiten eines Steins) und wie sie entstanden sind (im Abstand von sechs Schritten). Der Titel ist damit genauso schlicht wie die Fotografien selbst, die mit ihrer klaren Komposition und dem kontrastreichen Schwarzweiß an klassische Porträtaufnahmen erinnern, als handle es sich bei diesem Motiv nicht um einen Gegenstand, sondern um einen Menschen aus Fleisch und Blut.

Was an den Fotografien sofort auffällt, ist ihre Unterschiedlichkeit. Wüsste man es nicht besser, würde man annehmen, man habe es mit zwei verschiedenen Gegenständen zu tun. Dieser Eindruck entsteht vor allem aufgrund eines einfachen gestaltpsychologischen Effekts: Ohne uns dessen bewusst zu sein, suchen wir in den abstrakten Formen nach vertrauten Mustern, z. B. nach den Konturen eines Gesichts. Und weil das, was wir auf die linke Fotografie projizieren sich von dem unterscheidet, was wir in der rechten zu erkennen glauben, meinen wir, wir hätten es mit zwei verschiedenen Gegenständen zu tun. Erst wenn wir genauer hinsehen, stellen wir fest: Die rechte Seite des Steins auf der linken Fotografie hat dieselben Konturen wie die Vorderseite auf dem rechten. Das, was wir auf den ersten Blick für zwei verschiedene Gegenstände gehalten haben, erweist sich auf den zweiten als ein und dasselbe. Damit zeigen Baysals Fotografien einmal mehr, dass es nicht nur auf die Perspektive ankommt, aus der wir etwas betrachten. Es kommt mindestens genauso sehr darauf an, wie lange wir bereit sind, uns etwas (oder jemandem) anzuschauen.

2020, also ein Jahr nach seiner Entdeckung, besucht Baysal den Stein erneut. Diesmal will er ihn nicht fotografieren, sondern filmen – und zwar nicht in Schwarzweiß, sondern in Farbe. Die ersten Bilder der Videoarbeit Yayla sind statisch. Dann jedoch geraten sie in Bewegung, Schritt für Schritt, als wollten sie sich hineintasten in die Zeit. Nach einigen Minuten taucht links im Bild die vertraute Gestalt des Steins auf. Baysal inszeniert hier eine Wieder- und zugleich Neuentdeckung. Denn zwischen den Schwarzweißaufnahmen und dem Film ist nicht nur ein Jahr vergangen, auch unsere Perspektive auf den Stein hat sich verändert. Anstatt ihn statisch aus allen vier Himmelrichtungen zu betrachten, umkreisen wir ihn nun. Einiges erkennen wir dabei wieder (z. B. die unterschiedlichen Gesichter), etwas anderes hingegen sehen wir zum ersten Mal (z. B. das leuchtende Grün der moosbewachsenen Südseite). Während es so scheint, als habe Baysal mit den klassischen Schwarzweißfotografien den Stein verewigen wollen, scheint er mit seinen Filmaufnahmen zu versuchen, ihn wieder zum Leben zu erwecken. Als müsse hier, in der zweiten Begegnung, etwas nachgeholt werden, das in der ersten Begegnung verlorengegangen war.

Jede Fotografie und jede Filmaufnahme versucht etwas festzuhalten, das sich eigentlich nicht festhalten lässt: einen Moment, einen Gegenstand in der Zeit, eine Erfahrung. Jedes fotografische Bild zeigt also etwas Abwesendes , etwas, das nicht hier ist, sondern woanders.

Die Skulptur Untitled (Kaya), die wir draußen auf dem Grünstreifen sehen, kann als eine Auseinandersetzung mit diesem Problem gedeutet werden. Die filigrane Eisenkonstruktion erinnert an die Konturen des Steins, der hier vielleicht auf die Seite gelegt wurde. Der Inhalt der Konstruktion, d. h. der Raum zwischen den Konturen, bleibt jedoch leer. Das, was im Pontusgebirge präsent war, wird hier in seiner Abwesenheit erfasst. Wir sehen nicht den Stein selbst, sondern nur eine blasse Erinnerung an ihn, ein Abbild im Verschwinden. Der Stein, der eben noch etwas durch und durch Undurchdringliches, ja Monumentales war, wird erst in der Erinnerung zu etwas so Leichtem und Luftigen, dass man glaubt, in ihn hineingreifen zu können.

text: Clemens Espenlaub

photos: Nils Stelte